Erlebnisberichte

UNTERWEGS: sibirische Geschichten

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04. Februar 2013 von Kurt Schaad

TYPISCH RUSSISCH

Eingemummelt bis zur Nasenspitze habe ich mich bei -30 Grad aufgemacht, um unsere cotravel Gruppe am gefrorenen Baikalsee in Empfang zu nehmen. Und da in Russland die Uhren anders ticken, Probleme mit Vodka gelöst werden und Autos auch mal kopfüber im Eis feststecken, ist allein der Weg schon ein Erlebnis.

Der Flughafen in Irkutsk hat eine einzige Halle für Ankunft und Abflug. Sie ist so etwas wie eine Art Heimat für mich. Ich kann sie ausführlich studieren, denn ich bin bestellt aber nicht abgeholt. Man glaubte, ich käme um 12, tatsächlich suche ich schon um 8 Uhr nach einer Kontaktperson. Ich kenne inzwischen das Angebot an Getränken und Snacks im Flughafenpub genau. Ich kann alles in Ruhe studieren. Die Angestellte ist mit ihrem Freund beschäftigt und da ich der einzige Gast bin, will sie sich sicher nicht zu aufdringlich um meine Wünsche kümmern. Auch kann ich mich ausgiebig in die russische Sprache vertiefen, das heisst, in die monotonen Ansagetexte der Flughafenstimme. Ich bin eben dabei, das eine oder andere Wort zu erahnen, als weit hinten in der Halle eine Person meine Aufmerksamkeit gewinnt. Sie bewegt sich viel schneller als alle anderen und steuert mit sichtbaren Aufgeregtheit auf mich zu. Sie baut sich vor mir auf, strahlt mich an, sagt, sie heisse Marina und übergiesst mich mit einem wortreichen Wasserfall von Entschuldigungen. Gleichzeitig drückt sie mir eine Vodkaflasche in die Hand, Nathalie würde sie bezahlen, es sei ihr Fehler gewesen, Becher hätte sie auch dabei und bei diesen Temperaturen könne der eine oder andere Schluck sowieso nicht schaden. Wir machen uns auf zum Baikalsee.

Es sind satte 30 Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt, als wir mit Alexeij auf dem zugefrorenen Baikalsee zu seinem Eisloch unterwegs sind. Wir sitzen eng zu dritt auf den Vordersitzen seines kleinen Kastenwagens. Das sei angenehmer bei dieser Kälte meint Alexeij. Die Eisdicke betrage 120 Zentimeter und man könne problemlos mit schweren Lastwagen übers Eis fahren. Alexeij spricht von Väterchen Baikal, wenn er über den See spricht. Man müsse schon wissen, wie er lebe, wie er atme, dann könne man sich gefahrlos auf ihm bewegen. Weil das Wasser unter dem Eis immer etwas in Bewegung sei, würden von Zeit zu Zeit Risse entstehen. Mit entsprechender Erfahrung könne man dieser Gefahr gut aus dem Weg gehen. Aber es gebe immer wieder unerfahrene Idioten, die sich mit ihren Autos auf den See begeben und ihren Wagen oder gar ihr Leben wegen eines solchen Risses verlieren.

 

Ich weiss nicht, ob hier Väterchen Baikal Regie führt, aber kaum gesagt, taucht in einiger Entfernung eine Figur auf, die mit rudernden Armbewegungen auf sich aufmerksam macht. Alexeij hält auf ihn zu. Wir treffen auf einen jungen Mann, der atemlos erklärt, dass sie eben mit ihrem Wagen im Eis eingebrochen seien. Zu dritt hätten sie gerade noch knapp das Auto verlassen können. Die Szenerie macht mich nicht nur sinngemäss sprachlos. Ich versuche, ein absolut surreales Bild in die Realität des Lebens einzuordnen. Bis zur Hälfte der Windschutzscheibe ragt ein Auto in Schräglage aus dem Eis, die Motorhaube nicht mehr sichtbar, der Kofferraumdeckel geöffnet, im Innenraum leicht dampfendes Wasser. Der erste Gedanke: nichts wie weg, gleich werden auch wir im Eis einbrechen. Aber Alexeij steigt seelenruhig aus und stellt fest, dass ein Eisblock unter dem Wagen ein Absinken in die Tiefe verhindert hat. Er rammt eine Stange, die er aus seinem Wagen geholt hat, ins Eis und sichert mit einem Seil das havarierte Auto. Alexeij steht ganz nah an dem, was sich bis vor wenigen Minuten noch auf vier Rädern übers Eis bewegt hat. Auch ich wage es nun, einen Augenschein aus der Nähe zu nehmen. Einen halben Meter neben der Auto-Wasserleiche hält das Eis bombenfest. Der Vergleich mit einem Absturz in eine Gletscherspalte drängt sich ins Denken und die Geschehnisse um die Unfallstelle nehmen reale Formen an. Eine junge Frau steht etwas verdattert herum und erklärt Marina, dass alles ganz schnell gegangen sei. Zuerst hätte sie nasse Füsse und drei Sekunden später nasse Oberschenkel gehabt. Zum Glück konnten sie noch eine Tür öffnen und sich aufs feste Eis retten. Ihr Begleiter ist am Mobiltelefon, er telefoniert gerade mit seinen Eltern, denen das Auto gehört. Er sagt, sie sollen sich keine Sorgen machen, der Wagen sei nur ganz wenig nass geworden. Der Rettungsdienst sei schon avisiert und auf dem Weg hierher. Auch wenn es windstill ist und die Sonne scheint sind trotz tiefer Temperaturen keine Anzeichen von Panik oder Angst vor Erfrierungen zu erkennen. Der wichtigste Gedanke scheint, das Auto dem See entreissen zu können. Keine Chance, sage ich zu Alexeij aber der sagt, das geht schon. Der Rettungstrupp hätte spezielles Tauchgerät dabei. Alles scheint geregelt und so fahren wir weiter zum Eisloch. Väterchen Baikal hat das schon richtig gemacht, resümiert Alexeij. Wären die drei Abenteurer später eingebrochen, hätten sie, ohne Handy-Empfang, keine Chance auf Rettung gehabt. Und Marina sagt typisch russisch.

Typisch russisch, denke ich, als Alexeij kurze Zeit später mit einer Kettensäge sein in den letzten zwei Tagen wieder zugefrorenes Eisloch aufschneiden will. Die Säge macht keinen Wank. Der Schweizer denkt jetzt müssen wir unverrichteter Dinge wieder umkehren. Der Russe beginnt, die Säge zu reparieren. Schliesslich hat er immer auch Werkzeug dabei. Alexeij schraubt auseinander, setzt wieder zusammen, schraubt auseinander, setzt wieder zusammen. Beim dritten Anlauf beginnen die Sägezähne zu rotieren. Innert kürzester Zeit ist das Loch eisfrei. 20 Zentimeter war die Eisdecke in zwei Tagen gewachsen. Nach einer Viertelstunde schweisstreibender Arbeit hat Alexeij ein Netz in der Hand, das er langsam aus dem Wasser zieht. Omul heisst der Speisefisch, der im Baiklasee lebt. Als das ganze Netz aus dem Wasser ist, hat Alexeij beinahe 20 Omul aus dem See geholt. Er lässt ein neues Netz in die Tiefe gleiten und wird in zwei Tagen mit seiner Kettensäge wieder hier sein. Bei jedem Wetter? Bei jedem Wetter, man könne sich an alles gewöhnen. Marina freut sich über vier geschenkt Omul und mahnt zum Aufbruch. Tatyana und Sergeij, die ich vor einem Jahr kurz kennen lernte, erwarten uns noch.

Auf dem Rückweg sehen wir, dass die Rettungsequipe an der Arbeit ist, der Wagen aber immer noch im Eis feststeckt. Tatyana erwarte uns zum Tee, zudem hätte sie ein paar Blinis gemacht, meint Marina und kurze Zeit später geht mir der Gedanke ,typisch russisch‘ noch einmal durch den Kopf. Sergeij und Tatyana begrüssen mich wie eine langjährigen Freund. Die paar Blinis erweisen sich als reich gedeckter Tisch mit vielen Köstlichkeiten und so schlagen wir uns die Bäuche voll. Der Vodka, angereichert mit Beeren aus dem Garten, macht die Runde und wir stossen an auf die guten sibirisch-schweizerischen Beziehungen und bei solch unverfälschter Gastfreundschaft wird mir ganz warm ums Herz.