10. Dezember 2012 von Kurt Schaad
„POAHH!“
„Wir machen besser einen kleinen Umweg“, brummelt Alfredo, der mich am Inlandflughafen von Buenos Aires abgeholt hat. Schnell wechselt er quer über sechs Spuren. Diese Strasse führe seit kurzem durch neue Favelas und es sei besser, einen kleinen Umweg zu machen. Das scheinen andere Fahrer auch so zu sehen. Der direkte Weg ins Zentrum von Buenos Aires bleibt fast unbefahren. Argentinien ist in der Krise – „son en krisis“ – wieder einmal.
Gestern habe er Erdbeeren für 15 Pesos gekauft, heute hätte er im selben Geschäft 18 Pesos dafür zahlen müssen. „Zum Glück habe ich noch einen anderen Laden gefunden, wo sie die Erdbeeren immer noch für 15 Pesos verkauft haben. Aber Morgen werden sie sie wohl auch dort teurer sein.“ Alfredo ist sauer auf die Regierung. In zwei Wochen wird er, wie schon einen Monat zuvor, mit Pfanne und Löffel auf die Strasse gehen um zusammen mit Massen anderer Unzufriedener lautstark gegen die Missstände zu protestieren. Gegen die Korruption, gegen die Günstlingswirtschaft, gegen die steigenden Preise. Offiziell beträgt die Inflation 10 Prozent. Tatsächlich liegt sie aber bei 25 bis 30 Prozent. Es erstaunt deshalb niemanden, dass die Staatsangestellten kürzlich eine 25 prozentige Lohnerhöhung erhalten haben. „Don‘t lie to me Argentina“ hat der ,Economist‘ kürzlich getitelt und die gefälschten Statistiken der Regierung angeprangert.
Der laustarke Massen-Protest auf der Strasse ist nicht politisch organisiert. Er ist spontan durch Aufrufe in den sozialen Medien entstanden. Früher wäre mal wieder die Zeit reif für einen Militärputsch gewesen. Seit der brutalen Diktatur in den 80er Jahren und der vernichtenden Niederlage im Falklandkrieg sind die Militärs aber zu geschwächt, um in die Politik des Landes eingreifen zu können – Gottseidank.
Alfredo ist überzeugt, dass der spontane Protest der Massen zu Veränderungen führen wird. „So kann es nicht weiter gehen“ sagt er mit finsterer Mine, die sich sogleich aufhellt, als wir auf Buenos Aires zu sprechen kommen. Buenos Aires, diese fibrierend melancholische Stadt, wo man im Stammcafé um die Ecke seine Steuererklärung ausfüllt und wo man seine Gefühle beim Tangotanzen auslebt. Dieser Tanz, der eine innere Traurigkeit sichtbar macht und der nicht besser zu dieser Stadt passen könnte.
Ein paar Tage später treffe ich Pablo. „Wir sind ein reiches Land“ sagt Pablo mit einem strahlenden Lächeln, „wir müssen diesen Reichtum nur richtig nutzen. Wir haben ein gutes Bildungswesen. Unserer Landwirtschaftsprodukte sind erstklassig und touristisch haben wir Unglaubliches zu bieten.“ Ich bin mit Pablo, den alle nur Pichi nennnen, im Nordwesten Argentiniens unterwegs, sozusagen dem Gegenentwurf zu Buenos Aires. So faszinierend die Grossstadt am Rio de la Plata ist, so faszinierend ist die Gegend, durch die mich Pichi während fünf Tagen führt. Eine Gegend, gespickt mit unzähligen Vulkankegeln und grossen Salzseen. Eine Gegend, in der man einen ganzen Tag unterwegs sein kann, ohne einem andern Fahrzeug zu begegnen. Ideal also, die Enge der Schweiz vorübergehend mit der unendlichen Einsamkeit der Puna Catamarcena zu tauschen.
„Poahh!“
Der spontane Ausruf der Begeisterung entfährt mir immer dann, wenn sich überwältigende Landschaftsbilder vor meinen Augen auftun. Wenn man im Zug von Bern Richtung Lausanne unterwegs ist und sich plötzlich das Genferseepanorama ausbreitet. Oder beim Blick von der Segantinihütte in die Oberengadiner Seenlandschaft.
Und wieder liegt ein See zu meinen Füssen. Ein See ohne reflektierende Wasseroberfläche, überhaupt ohne Wasser, ein weisser See, ein Salzsee. El Salar de Antofalla. Eben haben wir auf 4600 Metern einen Pass überquert und ich wollte schon auf der Passhöhe aussteigen, beim Steinhaufen, der kleinen Kultstätte für Pachamama, der Mutter Erde. Aber Pichi meinte, wir müssten nur noch gleich um die nächste Kurve fahren:
„Poahh!“
Der Salzsee im Talboden wie eine weisse Schlange, unendlich lang, Kopf und Ende sind nicht zu sehen, eingerahmt von einer Berglandschaft mit schneebezuckerten Vulkanen. Von weiss über gelb zu rot zu braun, in allen möglichen Ocker-Tönen leuchten die Farben der Berghänge, wie wenn die Götter einen Teil des Spektrums ihrer Malkästen hätten ausprobieren wollen. Dazu der Kontrast des wolkenlosen, tiefblauen Himmels. Wer will, kann hier durchaus eine göttliche Aura verspüren. Im Hintergrund der Gipfel des über 6700 Meter hohen Llullaillaco, wo 1999 drei Kindermumien gefunden worden sind. Vor rund 500 Jahren haben die Inkas die drei jungen Menschen zu Ehren der Erdgöttin Pachamama geopfert. Wir hinterlassen eine Flasche Wasser im Steinhaufen für Pachamama und sind zuversichtlich, dass das heute genügt, um sie für unsere Reise gütig zu stimmen.
Am Rande des Salzsees zwischen zwei Bergflanken ein kleiner grüner Fleck: die Oase Antofalla. Das Zeichen einer menschlichen Lebensader in einer unwirtlichen Marslandschaft. Pichi meint, dort sei es am besten für einen Picknick-Halt. Restaurants gibt es in dieser Gegend keine, die Verpflegung – und vor allem genügend Wasser – muss man selbst mitnehmen. Das mit dem Picknick ist zwar gut gemeint aber der Wind verhindert ein ungestörtes Essen unter freiem Himmel. Also stehen wir kurz darauf in der Küche eines alten Indio-Ehepaares, das uns strahlend Platz am Tisch freiräumt und darauf besteht, dass wir von der hausgemachten Polenta kosten müssen. In dieser Gegend empfängt man Fremde gerne, auch für einen Schwatz, der Abwechslung ins eintönige Leben bringt. Früher seien sie noch mehrere Tage mit Eseln und Lamas über die Pässe in dichter besiedelte Täler gezogen, um Waren zu tauschen. Heute kommen ihre Kinder gelegentlich mit dem Auto vorbei.
Man könnte in dieser Gegend auch den Zug nehmen. Auf dem Weg zum drittgrössten Salzsee der Welt, dem Salar de Arizaro, taucht plötzlich ein Holzkreuz auf, wie man es von unüberwachten Bahnübergängen kennt. Und tatsächlich: kurz darauf queren wir einen Schienenstrang, der aus dem Nichts kommt und sich im Nichts verliert. Die Gefahr, von einem Zug erfasst zu werden, ist allerdings äusserst gering. Höchstens ein Mal pro Monat komme noch ein Güterzug vorbei, meint Pichi. Bis Anfang der 80er Jahre sei hier ein Mal pro Woche ein Personenzug vom argentinischen Salta bis nach Antofagasta an der chilenischen Pazifikküste unterwegs gewesen, mit Schlaf- und Speisewagen. „Heute nimmt man den Bus, das ist schneller und bequemer“, sagt Pichi mit einem Achselzucken.
Die mit unzähligen Tunnels, Viadukten und Kehrschleifen gespickte Bahnlinie windet sich bis auf 3885 Meter über Meer. Sie frisst sich durch Berghänge, durchquert mehrere Salzseen und führt an stillgelegten Minen vorbei. Die zahlreichen Minen waren denn auch der Grund, weshalb der Schienenstrang vor über 100 Jahren in diese unwirtliche Gegend hinein gelegt worden war. Nahe der chilenischen Grenze stossen wir auf eine dieser Minen – stillgelegt. Bis zu 4000 Menschen hatten hier mal gearbeitet und Schwefel abgebaut. Irgendwann hat‘s nicht mehr rentiert. Übrig geblieben sind eine Transportseilbahn, mit der es nichts mehr zu transportieren gibt und eine Eisenbahnstrecke im Dornröschenschlaf. Vielleicht kommt einmal ein ferrophiler Prinz, um sie wach zu küssen. Ich wäre gerne Passagier auf dieser aussergewöhnlichen Zugreise.
El Penon ist ein weiterer kleiner grüner Fleck in dieser Vulkanlandschaft und er bietet Überraschendes. Ein Hotel mit Zimmern, die alle über Dusche und Toilette verfügen – heisses Wasser ab 21 Uhr – und, wer hätte das gedacht: Internetempfang. Ich bin schon fast etwas enttäuscht, dass das sogenannt moderne Leben jetzt auch noch die letzten Abenteuerecken der Welt erreicht hat um mich dann – nur ganz kurz – über die Langsamkeit der Verbindung zu ärgern. Pichi freut sich aufs Nachtessen und lässt dann den halben Teller stehen. Ob‘s ihm denn nicht geschmeckt habe, wollte ich wissen, während ich zufrieden den letzten Rest Polenta verdrücke. „In dieser Höhe muss man beim Essen zurückhaltend sein“, sagt Pich mit einem Blick, in dem ich Mitleid zu verspüren glaube. Was er damit meinte spüre ich kurze Zeit später beim Versuch, endlich Schlaf zu finden. Auf einer Höhe von über 3600 Metern ist die Verdauungsarbeit anders geregelt. Am nächsten Abend gebe auch ich meinen Teller halbvoll zurück.
„Poahh!“
Wir sind – natürlich – wieder einmal auf einer Holperpiste unterwegs. „Sieht aus wie ein Gletscher“, sage ich und weise auf eine grosse weisse Fläche in der Ferne hin. „Ist aber keiner“ sagt Pichi und lässt mich im Ungewissen. ,Campo De Piedra Pomez‘ stand auf dem Schild, als wir von der Hauptstrasse abgebogen sind. Wir steuern auf diesen Campo, dieses Feld zu, mitten in einer Mondlandschaft mit schwarzen Vulkankegeln, erkalteten Lavaströmen, Riesensanddünen und Bergflanken in verschiedensten Grautönen. Und dann sind wir da, lassen das Auto stehen und streifen durch das Campo und jetzt weiss ich, was ,Piedra Pomez‘ heisst: wir erkunden ein spektakuläres Bimssteinfeld, das sich bis zum Horizont erstreckt: „Poahh!“
Wir sind im Zentrum eines riesigen Kraters, der auf einen eingebrochenen Vulkan zurück geht. Darin finden sich jüngere Vulkane, Lavafelder und eben dieses Bimssteinfeld. Nein, es ist kein Gletscher, sondern wirkt mit seinen wellenförmigen Steinflächen wie ein zu Stein gewordenes, weisses Meer.
Pichi hat schon recht: Argentinien ist ein reiches Land, reich an Landschaften, in denen man sich gefühlsmässig austoben aber der Realität nicht entfliehen kann. Als wir über dreitausend Höhenmeter tiefer in der sogenannten Zivilisation eintreffen meint Pichi, er gehe nicht mit Pfanne und Löffel auf die Strasse, die Dachreparatur seines Hauses sei wichtiger. Aber falls die Präsidentin die Verfassung zugunsten einer dritten Amtszeit zurecht biegen wolle, würde auch er auf der Strasse demonstrieren: „Poahh!“
Ausgearbeitet hat diese aussergewöhnliche Route durch Argentinien und Chile der TV Reise-Journalist Kurt Schaad. Wie auch die Kenia Reise dieses Frühjahr (3 Gruppen) oder die Sibirienreise vom kommenden Februar (2 Mal ausgebucht). Cotravel profitiert mit dieser Zusammenarbeit vom grossen Erfahrungsschatz und den journalistischen Zugängen des Reiseprofis. Alle diese Reisen basieren auf einer vorgängigen Rekognoszierung von Kurt Schaad. In Argentinien hat er diesen Oktober die cotravel-Gruppe während sieben Tagen begleitet um dann anschliessend ein noch wenig erschlossenes Gebiet im Nordwesten Argentiniens zu erkunden. Durchaus möglich, dass in dieser faszinierenden Gegend in naher Zukunft auch eine cotravel-Gruppe unterwegs sein wird. Mit den argentinischen Reisenotizen von Kurt Schaad können Sie auf diesem aussergewöhnlichen Trip schon mal geistig mitfahren, während wir an der Umsetzung arbeiten …
Ihr cotravel Team