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ARTIKEL: Usbekistans Nationalheld

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Timur-Statue Usbekistan_cotravel Blog Artikel Michael Wrase_Pixabay

10. April 2015 von Michael Wrase

TIMUR UND DIE TIMURIDEN

Das letzte Mal, als ich eine cotravel Gruppe nach Usbekistan begleitet habe, verbrachten wir einen lauschigen Mittag am Ufer eines Flusses. Dort genossen wir einen hervorragenden Fisch – mir ist, als sei es Zander gewesen. Als Einstimmung auf Samarkand – denn dort sollte uns unser Weg hinführen – wurde das nachfolgende Referat gehalten.

Ich wollte den Reiseteilnehmern den grossen Timur etwas näher bringen, für den die wundervolle Stadt „Zentrum oder Mittelpunkt der Welt“ darstellte. Um diesen grossen Feldherrn und Welteneroberer, auf den ja nicht nicht gerade das Attribut rücksichtsvoll zutrifft, einordnen zu können. Viele grosse Persönlichkeiten, von denen noch die Rede sein wird, haben sich mit Timur befasst.

TIMUR UND DIE POETEN

Unter ihnen waren Goethe, der Komponist Georg Friedrich Händel. Und Kurt Tucholsky, der 1922 für ein Berliner Kabarett ein Lied über Timur (auch Tamerlan genannt) schrieb. Er liess den Militärführer über grüne Wiesen reiten:

„…und wo der Junge einmal hintrat, wuchs kein Gras.
Und alle Frauen lauschten angstvoll seinem Schritt
Und in den Städten – fielen die Mädchen alle mit.“

Weiter dichtete Tucholsky: „Er war auch stets zu wildem Kampf bereit / Das war in Asien – eine schöne Zeit.“ Und als Refrain seines Karatbettliedes schrieb Tucholsky voller Ironie: „Mir ist heut so nach Tamerlan zu Mut / Ein bisschen Tamerlan wär gut“ …Nun ja.

Der berühmte polnische Journalist und Schriftsteller Ryszard Kapuściński vergleicht Timur mit einer Schere. Die Schere Timurs, schreibt er, habe, wie jede Schere, zwei Messer: Ein schöpferisches Messer und ein zerstörerisches. Diese Messer würden das Handeln eines jeden Menschen prägen. Nur dass sie für gewöhnlich nicht so weit auseinander klaffen wie eben bei Timur. Bei ihm sei die Schere bis zum Anschlag geöffnet gewesen. Er habe den Tod gebracht und diese Aufgabe nahm ihm die eine Hälfte des Tages. In der zweiten Tageshälfte widmete er sich der Kunst. Timur habe die Kunst mit derselben Hingabe gefördert, wie er die Menschen abschlachten liess.

In diesem Zusammenhang weist Kapuściński allerdings daraufhin, dass er nicht alle Menschen umbringen liess: Er befahl jeden am Leben zu lassen, der künstlerisches Talent besass. Das beste Asyl – oder die beste Lebensversicherung – im Reiche Timurs sei die Begabung gewesen. Er warb um jeden einzelnen Künstler, habe keinem auch nur ein Haar krümmen lassen. Der grosse Feldherr, betont Kapuściński voller Bewunderung, besass einen absoluten Geschmack, achtete auf die Feinheit der Zeichnung und die Reinheit der Linien. Ehe er – und das ist eigentlich bedauerlich – sich wieder in einen neuen Feldzug, in ein Blutbad, in Flammen und Kriegsgeschrei stürzte…

HISTORISCHE FAKTEN

Der Name Timur kommt aus der Tschagataischen Sprache und bedeutet „der Eiserne“. Dass Timur aufgrund einer Verwachsung der rechten Kniescheibe gelähmt war, auch Probleme mit der rechten Schulter hatte, ausserdem die Beweglichkeit seiner rechten Hand nach einer Kriegsverwundung eingeschränkt war – all dies wird in Usbekistan, wie man sich vorstellen kann, nicht erwähnt. Hier ist Timur der Eiserne – und nicht der Lahme, wie ihn die Perser nannten.

Als Timur am Hofe des Tschagatai-Khans seinen Dienst antrat, rangen in Zentralasien und im Mittleren Osten zwei Mächte und Grössen: In Persien waren dies die mongolischen, islamischen Ilkhane und im damaligs angrenzenden Transoxanien waren es die Nachfahren des grossen Dschinguis Khan, nach seinem zweiten Sohn Tschagatai benannt.

Timur, der 1328 bei Kesh, dem heutigen Shahrisabz, geboren wurde, machte am Hofe des Tuglugh Timur schnell Karriere. Mit 35 Jahren sicherte er sich die Herrschaft über ganz Transoxanien, darunter auch Samarkand, das er 1366 eroberte, vier Jahre später zur Hauptstadt machte und sich zum Emir von ganz Transoxanien ausriefen liess. Durch die Heirat mit Sarai Mulk nahm er einige Jahre später den Titel „Gurgani“ an, was von dem mongolischen Ausdruck „Gurwan“, zu Deutsch Alleinherrscher, kommt.

DAS PROFIL EINES KRIEGSHERREN

Timurs Traum oder Vision war von Anfang an die Wiederherstellung eines islamischen Grossreiches. Zu Beginn seiner Karriere vollendete er die Islamisierung der in Zentralasien eingewanderten Mongolenstämme. In der Theorie galt in seinem Reich damals das mongolische Jassa-Recht. Angewendet wurde aber wohl eher die islamische Scharia, also das Strafrecht aus dem Koran.

Um es vorsichtig zu formulieren: Timur war ein brutaler Kriegsherr. Wo er auftauchte, beschreibt der arabische Historiker Said Wosifi sehr blumig, strömte das Blut aus den Menschen wie aus Krügen und der Himmel nahm die Farbe von Tulpen an. Den Besiegten liess er die Köpfe abschlagen und aus ihren Schädeln Türme, Mauern und Wege bauen. Kaufleuten liess er die Bäuche aufschlitzen, um dort nach Gold zu suchen. …Das sind keinesfalls Übertreibungen. Als Timurs Heere die persische Stadt Isfahan eroberten, wurden auf einer Stadtseite 28 Schädeltürme gezählt. Insgesamt sollen in Isfahan mehr als 70‘000 Menschen ermordet worden sein. In Bagdad waren es ein paar Jahre später ebenso viele. Und vor der Entscheidungsschlacht um das indische Delhi liess Timur 100‘000 Kriegsgefangene hinrichten, damit sie nicht zum Feind überlaufen konnten.

Noch viele weitere Horrorgeschichten könnte man über Timur erzählen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass grenzenlose Brutalität, oder Terror, damals zum guten Ton gehörte. Nicht nur in Zentralasien und dem Mittleren Osten, sondern auch in Mitteleuropa, wo die katholische Kirche bereits im 12.Jahrhundert, also 100 Jahre vor Timur, den Grundstein für die Inquisition gelegt hatte. Unter dem Papst Innozenz III. Was für ein schöner Name für einen mittelalterlichen Papst… Dies aber nur am Rande.

Fest steht: Timurs Reich war eines der grössten, die jemals in Mittelasien existierten. Er war, das kann man ohne Übertreibung sagen, der grösste Eroberer der islamischen Welt. Sein Reich umfasste die islamische Welt von Anatolien und Syrien im Westen bis nach Indien und an die Grenzen von China im Osten. Allerdings zerfiel dieses Konstrukt schon bald nach seinem Tode. Es kam zu Streitereien unter seinen Nachfolgern. Viele der mühsam besiegten Staaten wurden schnell wieder unabhängig.

HANDBUCH ZU EROBERUNGEN

Bei der rasanten Expansion seines Reiches ging Timur immer nach denselben Herrschaftsmustern vor, bediente sich Praktiken, die sich bereits bewährt hatten. Im Vordergrund stand dabei die Einschüchterung der unterworfenen Bevölkerung durch grenzenlose Brutalität. Allerdings verzichtete Timur darauf, der lokale Aristokratie und auch die lokale Geistlichkeit Leid zuzufügen. Die brauchte er schliesslich.

Ausserhalb seines Kernlandes hinterliess er keine geregelte Verwaltung; die Übernahme der bestehenden sozioökonomischen Strukturen machte es ihm leicht, das Gebiet zu kontrollieren. Sicherheit gab es unter Timur nur gegen massive Tributzahlungen; heute würde man Schutzgeldzahlungen sagen. Durch den dadurch entstandenen Zufluss an Geldern, Gebrauchs- und Luxusgütern, Lebensmitteln und anderen Ressourcen konnte das wirtschaftliche Niveau im Kernland Transoxanien mit der Hauptstadt Samarkand gehoben werden.

Man könnte auch sagen, dass Timur seine Kolonien ausplünderte, um Samarkand erblühen zu lassen. Auch andere Eroberer gingen, wie wir wissen, nach diesem Muster vor. Und auch heute noch gibt es ja ein gewisses Nord-Süd-Gefälle auf der Welt, beklagen sich Menschen in der dritten Welt darüber, dass der Westen auf ihre Kosten lebt… Zur Erblühung von Samarkand trug vor allem die Tatsache bei, dass sich Timur aller menschlichen Ressourcen in seinen Kolonien bediente. Dazu gehörten nicht nur Handwerker, sondern auch Wissenschaftler, Gelehrte, Theologen – also die Elite der Kolonien. Auch dazu gibt es gewisse Parallelen zur Neuzeit.

Grosses Vorbild bei der Erbauung seines zentralen Reiches mit Samarkand als Hauptstadt war Persien, desssen Kunst und Kultur den Geschmack der damaligen Zeit dominierte. Durch die Verschmelzung der iranischen Kunst mit der zentralasiatischen Kultur entstand ein neuer Architekturstil, nämlich der timuridische, über den unsere Führer bei der Besichtigung von Samarkand sicherlich noch viel berichten werden. Samarkand erhielt von Timur, wie schon erwähnt, den Namen „Mittelpunkt oder Zentrum der Welt“. Es wurde auch die „Schwelle zum Paradies“ genannt. Interessanterweise trugen die neuen Vorstädte von Samarkand die Namen von jenen Metropolen, die Timur erobert und zum Teil verwüstet hatte: also Shiraz, Damaskus, Kairo und Bagdad.

WAS VON TIMUR BLIEB

Wollen wir die Leistungen von Timur bewerten, kommen wir zu dem Schluss, dass Timur sein timuridisches Kernland zu Grösse und Blüte brachte, anderswo aber für Untergang, Leid und Zerstörung sorgte. Islamwissenschaftler, die sich mit Timur befasst haben, glauben, dass die Islamische Welt – vor allem Persien und der vordere Orient – durch Timur zurückgeworfen wurde. Soweit zurückgeworfen, dass die islamische Kultur in den folgenden Jahrhunderten materiell und kulturell gegenüber dem langsam aufstrebenden Europa ins Hintertreffen geriet.

Die Errungenschaften von Timur waren nicht nachhaltig sondern, wie es scheint, stark an seine Person und Autorität verbunden. Sein Reich wurde nach seinem Tod zum Spielball der Völker, seine Nachfolger konnten niemals das kulturelle Niveau von Samarkand und auch Buchara halten. Vor diesem Hintergrund muss man wohl sagen, dass der Preis für die relativ kurze Blüte von Samarkand – aus historischer Sicht – sehr hoch, viel zu hoch war.

UNERFÜLLTER TRAUM: CHINA

Auf dem Weg nach China starb Timur der Grosse. Das Reich der Mitte konnte er nicht erobern, der Winter machte ihm einen Strich durch seine Strategie. Diese historische Tatsache veranlasste Jahrhunderte später den grossen deutschen Dichter Goethe in seinem ostwestlichen Divan, ein Gedicht über den „Winter und Timur“ zu schreiben. In dem er – wahrscheinlich nicht ohne Schadenfreude – feststellt, dass Timur gegen die Naturgewalt des Winter nichts ausrichten konnte. So mächtig er auch gewesen sein mag. Es war sicherlich kein Zufall, dass Goethe sein „Timur-Gedicht“ nur ein Jahr nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons verfasst hat, dem ja auch der Winter zum Verhängnis wurde.

EIN NATIONALHELD FÜR USBEKISTAN

Zum Schluss noch ein Erklärungsversuch, warum Timur hier in Usbekistan trotz seiner vielen (sagen wir einmal vornehm) Defizite verehrt wird: Timur steht für Ehrgeiz, Energie, Willensstärke, Tatkraft, Schlauheit und Schaffenskraft. Positive Qualitäten – aber eben auch für Härte und Brutalität, die man in Zentralasien auch heute noch braucht, um sich als Herrscher behaupten zu können.

Timur, ein Mongole, hat Usbekistan zu historischer Grösse gebracht und sich als Förderer der Kultur, mit welchen Mitteln auch immer, einen grossen Namen gemacht. Er hat einen eigenen Architekturstil entwickelt, mit dem sich das heutige Usbekistan noch immer identifiziert. Und er hat als grosser Förderer des islamischen Glaubens die usbekisch-islamische Kultur geprägt, was ihn in seinem Umfeld, ganz besonders gegenüber dem lange säkularen Russland oder der Sowjetunion, zur einer kulturellen Identifikationsfigur macht. Vor diesem Hintergrund können sie verstehen, warum sich Herrscher dieses Landes gerne mit dem Namen Timur schmücken oder versuchen, sich mit ihm auf eine Stufe zu stellen. Ob sie dazu berechtigt sind, vermag ich nicht zu urteilen…

 

MEHR SEHEN, ANDERS ERLEBEN – USBEKISTAN

Bericht und Fotoalbum einer vergangenen Usbekistan-Reise.
Nächste cotravel Reise nach Usbekistan mit Michael Wrase: Oktober 2015.