Erlebnisberichte

ARTIKEL: Kaleidoskop Kuba

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05. September 2013 von René Zeyer

Ist Kuba ein Beispiel für die traurigen Tropen? Jahrzehntelang Diktatur und Unterdrückung, eine gescheiterte Revolution, wirtschaftlich bankrott, am Ende? Oder ist Kuba karibische Fröhlichkeit, Sonne, Sand, Salsa? Ist es der letzte Zufluchtsort für Che-Guevara-Nostalgiker, die Insel des Sozialismus, die Hoffnung für die Menschheit? Oder wurde hier der Traum eines für diese Insel viel zu grossen charismatischen Führers zum Alptraum, der starrsinnig und unbelehrbar seine Untertanen zu ihrem Glück nach seinem Gusto zwingen will, herrscht trübselige Mangelwirtschaft, gar Hunger? Kuba ist all das und noch viel mehr. Hier findet jede Frage ihre Antwort, und jede Antwort ihre Frage. Die Kubaner haben, gestählt an mehr als 50 Jahren Sozialismus, Überlebensstrategien entwickelt, die sie für jedes Problem eine Lösung finden lassen. Leider findet auch jede Lösung ihr Problem.

Alles ist im Fluss, alles verändert sich, damit alles bleibt, wie es ist. Bunter ist’s geworden in den letzten Monaten. Der allmächtige Staat hat sein Unvermögen eingestanden, alle Kubaner in Lohn und Brot zu halten. Massenentlassungen in paralysierten Staatsbetrieben wurden abgefedert, indem man der staunenden Bevölkerung verkündete: Macht das Beste draus, werdet selbständig. Also spriessen an jeder Strassenecke kleine Geschäfte aus dem Boden, wird repariert, geschustert, werden Haare geschnitten, Fingernägel bemalt. Auf kleinstem Raum in einem Hauseingang werden Erfrischungsgetränke angeboten, Pizzas gebacken, für ganz Mutige auch «Bocadillos», Sandwichs mit mehr oder weniger vertrauenserweckendem Inhalt. Dann erst die Paladares, private Restaurants. Man kann Zeitreisen unternehmen, in die 50er-Jahre, in Art Déco, in geradlinigen Bauhausstil, immer begleitet von ausgezeichnetem Essen und gepflegtem Service. Zu zweit kommt man, mit angenehmem Wein, Rum und echten Zigarren auf vielleicht 80 Franken, halb geschenkt. Gleichzeitig hat man ein halbes durchschnittliches Jahresgehalt eines Kubaners verspeist. Und ist wieder mittendrin in den Widersprüchen.

Auf der Calle Ocho in Miami, der Lebensader der mehr als eine Million Exilkubaner, ist es bis heute keine gute Idee, «que viva Fidel», lang lebe Fidel, zu sagen. Das kann echt Ärger geben, denn hier ist man weiterhin finster der Ansicht, dass der grausame Diktator und sein Regime demnächst fallen werden. Wenn nicht heute, dann spätestens «mañana», morgen. Trotz der Nähe zu Kuba sieht man hier die Inselbewohner als geknechtete, traurige und leidende Opfer in grau-trüber Umgebung.


Nichts kommt einer halben Wahrheit näher. In den letzten Monaten ist flächendeckend Farbe an die Häuser gekommen, nicht zuletzt, eine Revolution, weil nun auch nach 53 Jahren Häuser offiziell und gegen Bezahlung den Besitzer wechseln dürfen. Da wird geschachert und gehandelt, mangels Erfahrung wechseln Bruchbuden für Zehntausende von Dollar den Besitzer, hübsche Kolonialpaläste gehen für ein Butterbrot weg. Kaufen dürfen nur Kubaner, das Geld kommt von der Exilgemeinde, die damit das System mit Devisen über Wasser hält, dessen Ableben man sich doch so dringlich wünscht.

Wunderbare Widersprüche. Das Lebensnotwendige – Lebensmittel, Ersatzteile, ein neues Paar Schuhe – zu besorgen, das ist für den durchschnittlichen Kubaner weiterhin ein Kampf, der nur mit an 53 Jahren zentral gelenkter Planwirtschaft gestählten, grandiosen Businessplänen gewonnen werden kann. Aber Kunst und Kultur, Theater, Oper, Kino, Vernissagen, Ausstellungen, von der Musik ganz zu schweigen, die gibt es in Hülle und Fülle und weiterhin fast gratis. Bildung auch. Man sollte nicht überrascht sein, wenn man als Schweizer auf der Strasse angesprochen wird. Natürlich, weil einem gefälschte Zigarren, gepanschter Rum oder käufliche Liebe angedreht werden soll. Aber ich wurde kürzlich gefragt, wie denn in der Schweiz die Reaktionen auf den Tod von Hugo Loetscher ausgefallen seien, war schliesslich ein bedeutender Schriftsteller. Ich wurde von einem Schwarzen an der Strassenecke vom Schachbrett gefegt, als ich überheblich und arrogant bekannt gab, dass ich gerne Schach spiele und meinte, dass mir hier doch kein Problem erwachsen würde. Ich unterhielt mich über die Preise der Bilder von Richter, das neuste Buch von Vargas Llosa, hörte mit Tausenden von Kubanern ein Gratis-Konzert von Zucchero, diskutierte in lauen Tropennächten mit Freunden und Bekannten die Welt eckig und wieder rund, wir machten Scherze über Fidel Castro, den Sozialismus, die Amis und über uns selbst.


Jeder tritt mit seinen Ansichten in die kubanische Welt ein. Jeder bekommt sie bestätigt, der Enthusiast, der Nostalgiker oder der Kritiker, der sich nur überzeugen will, dass die Insel eigentlich am Ende ist, dringend einen Systemwechsel bräuchte. Aber niemand entrinnt diesem Kaleidoskop von geradezu magisch-realen Widersprüchen. Niemand bleibt unberührt davon. Nicht mal die Kubaner selbst. Denn obwohl seit Kurzem für die meisten Insulaner die letzten Reisehürden gefallen sind, kommt es zu keinem Massenexodus. Und ewig fahren die unzerstörbaren US-Oldtimer durch die Strassen, als wäre es noch wie zu Zeiten von «Drei traurige Tiger», dem literarischen Meisterwerk von Guillermo Cabrera Infante. Auch so eine typisch kubanische Geschichte. Infantes war glühender Revolutionär, dann genau so glühender Castro-Hasser, verbrachte ab 1965 den Rest seines Lebens im Exil. Erlebte den von ihm herbeigesehnten Zusammenbruch des Regimes nicht – und schrieb kein einziges nennenswertes Buch mehr. Es gibt Tausende solcher Storys.

Kuba erfindet sich immer wieder neu, jede vorgefasste Meinung zerschellt an seiner magischen Realität, hier herrscht real existierender Surrealismus, ist das Glas Rum gleichzeitig halb voll und halb leer, ist alles schlecht und alles gut, ist alles unerträglich und gleichzeitig beschwingt von der Leichtigkeit des Seins.

Man einigt sich deshalb am besten, spätestens nach einer Flasche Rum, auf die einzige Wahrheit, die auf der Insel gilt: So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Alles muss anders werden. Damit es so bleibt, wie es ist.

 

MEHR SEHEN, ANDERS ERLEBEN: KUBA

Ende 2014 gibt’s die nächste cotravel Reise nach Kuba mit René Zeyer.