Erlebnisberichte

ARTIKEL: Interview zu Kuba mit René Zeyer

< Zurück zur Übersicht
Artikel_Interview zu Kuba mit René Zeyer_cotravel Reise-Blog

24. April 2015

„DAS HAT VIEL BEWEGUNG IN DIE KUBANISCHE GESELLSCHAFT GEBRACHT“

Kuba erlebt in diesen Wochen historische Entwicklungen. Die Eiszeit zwischen dem durch Sanktionen abgeschnittenen Inselstaat und seinem mächtigen Nachbar USA scheint tatsächlich vorbei zu sein. Feindliche Parolen und propagandistische Rhetorik haben auf beiden Seiten weltmännischem Händeschütteln und vielkommentierten Meetings Platz gemacht.

Anlässlich der Gespräche zwischen Aussenministern und Präsidenten hat René Zeyer – unser cotravel Fachreferent auf den beiden diesjährigen Reisen nach Miami, Panama & Kuba – dem Tages-Anzeiger ein Interview gegeben, das wir hier mit seinem Einverständnis reproduzieren dürfen (Interview mit Vincenzo Capodici, Redaktor Ausland beim Tag, ursprünglich erschienen am 10. April 2015).

* * * * * * * * * * * * * * *

Sie kennen Kuba seit Jahrzehnten und reisen regelmässig dort hin. Wie haben Sie Kuba bei Ihrem letzten Besuch erlebt?
Ich war bei der Verkündung der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im Dezember in Havanna und kam vor drei Wochen zurück. Nach 50 Jahren striktem Staatssozialismus dürfen Kubaner seit einiger Zeit Kleinbetriebe auf «cuenta propia», auf eigene Rechnung, unterhalten, zum ersten Mal mit Häusern oder Autos handeln. Das hat viel Bewegung in die Gesellschaft gebracht, die Strassen sind bunter geworden, es wird geschachert und gewerkelt. Auf der anderen Seite sind mehr als 80% aller Werktätigen immer noch Staatsangestellte, zu einem Durchschnittslohn von 500 Pesos, rund 20 Franken im Monat. Trotz gratis Gesundheits- und Bildungssystem, teilweise subventionierten Lebensmitteln und kostenfreiem Wohnen fordert das von jedem Kubaner komplizierte Überlebensstrategien ab. Gleichzeitig geht zum ersten Mal seit dem Sieg der Revolution im Jahre 1959 die Schere zwischen cleveren und gutverdienenden Kubanern und der breiten Masse deutlich auf.

Was denken die einfachen Kubaner über die politische Annäherung zwischen ihrem Land und den USA? Glauben sie nun an eine bessere Zukunft?
Sie begegnen dem mit der tropisch wuchernden Mischung aus ewiger Hoffnung und konstanter Angst. Was alle Kubaner, unabhängig von ihrer Einstellung zu den Gebrüdern Castro oder zum Sozialismus, eint, ist der Stolz darauf, dass man mehr als 55 Jahre dem grossen Imperium im Norden widerstanden hat. Jeder Kubaner weiss, dass die Insel bis 1959 faktisch eine Kolonie der USA war, auf der sich die Mafia austoben durfte, Spielcasinos, Bordelle und Drogenhandel unterhielt. Auf der anderen Seite ist man flexibel: Wenn die Gringos als Touristen kommen und Dollars unter die Leute bringen, statt wieder die Herrschaft übernehmen zu wollen, sind sie sehr willkommen. Es gibt aber auch nüchterne Betrachtungsweisen. Ein Bekannter sagte mir, dass sich Barack Obama, der sonst in seiner Amtszeit nicht viel hinkriegte, und Raúl Castro, der nicht als der ewige kleine Bruder des grossen Fidel gelten möchte, sich mit der Wiederaufnahme normaler Beziehungen einfach ein Denkmal für die Geschichtsbücher setzen wollen, mehr werde da nicht passieren.

In welchen Punkten können Kuba und die USA in absehbarer Zeit Einigungen erzielen?
Diplomatische Beziehungen, die Streichung Kubas von der Liste der Terrorstaaten, die Abschaffung des Relikts aus dem Kalten Krieg, dass bis heute jeder Kubaner, der trockenen Fusses das Territorium der USA betritt, sofort eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung bekommt, Zusammenarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel – das kann schnell bewerkstelligt werden.

Und welches bleiben die Knackpunkte?
Das absurde Handelsembargo, mit dem die USA Kuba seit mehr als 50 Jahren in die Knie zwingen wollen, müsste vom US-Parlament aufgehoben werden. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse dort ist das auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Für die Aufhebung verlangen die USA unter anderem Schadenersatz für nationalisierte US-Besitztümer und die Durchführung von «freien» Wahlen, an denen sicherheitshalber weder Fidel noch Raúl Castro teilnehmen dürften. Kuba rechnet dagegen einen angeblichen Schaden der Wirtschaftssanktionen in der Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar auf und verbittet sich jede Einmischung in innere Angelegenheiten. Da sind die Wasser noch sehr tief.

Wie lange könnte es dauern, bis Kuba und die USA normale bilaterale Beziehungen unterhalten? Und wovon hängt das ab?
Die Normalisierung diplomatischer Beziehungen, Gespräche auf Regierungsebene und ein Handschlag zwischen Barack Obama und Raúl Castro sind wichtige, aber symbolische Akte. Obwohl die USA lustigerweise inzwischen der grösste Exporteur von Lebensmitteln nach Kuba sind – da hat sich die Agrarlobby gegen die Exilkubaner-Mafia in Miami durchgesetzt –, ist es noch ein sehr weiter Weg zu normalen Beziehungen. Die USA müssten akzeptieren, dass sich das Revolutionsregime nicht kleinkriegen lässt, auch nicht 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers. Die kubanische Führung müsste eingestehen, dass ihr Wirtschaftsmodell gescheitert ist, was ihren alleinigen Machtanspruch gefährden würde. Da werden noch viele Jahre vergehen, bis eine bilaterale Annäherung möglich ist.

Wohin will Raúl Castro Kuba führen?
Raúl Castro versucht seit 2006 verzweifelt, die kubanische Wirtschaft aus ihrer Agonie zu erwecken, den absurden Zustand zu verändern, dass eine fruchtbare karibische Insel rund 80% ihrer Lebensmittel importieren muss. Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen eine 55 Jahre lang wild ausgewucherte Staatsbürokratie. Gleichzeitig will er bewerkstelligen, dass das Machtmonopol der kommunistischen Partei dabei erhalten bleibt. Er ist 83 Jahre alt und hat bereits angekündigt, dass er in zwei Jahren nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung steht.

Wer kommt nach ihm an die Macht?
Nachdem einige potenzielle Nachfolger in den letzten Jahren abserviert wurden, sieht der Nachfolgeplan wohl so aus, dass eine kollektive Führung mit grossem Einfluss des Militärs an die Stelle des charismatischen Fidel Castro und seines ewigen Gefolgsmanns Raúl treten wird.

Geht es der kubanischen Wirtschaft wirklich so schlecht, wie es immer wieder zu lesen ist?
Die kubanische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand. Ausser Rohstoffen, Naturprodukten, Rum, Zigarren und etwas Pharmazeutika stellt Kuba nichts her, was auf dem Weltmarkt bestehen könnte. Wer in Kuba, um ein Beispiel zu nennen, ein Haus unterhalten muss, weiss, dass es aus einheimischer Produktion, ausser vielleicht Holz und Zement, eigentlich nichts gibt. Entweder wird importiert, vornehmlich aus China, Vietnam, Brasilien oder Kanada, oder es gibt nicht einmal einen Wasserhahn oder ein Fensterglas. Auf der anderen Seite verfügt Kuba dank seines grandiosen Bildungssystems über ein Heer von hoch qualifizierten Spezialisten, Ärzte, Ingenieure, Architekten, inzwischen sogar Ökonomen und Manager. Alleine durch die Vermietung von Ärzten und Gesundheitspersonal im Ausland kassiert der kubanische Staat inzwischen mehrere Milliarden Dollar pro Jahr. Aber Fabriken, Maschinenpark, Infrastruktur, das alles befindet sich in einem desolaten Zustand und bräuchte Milliardeninvestitionen.

Inwiefern kann Kuba für Schweizer Unternehmen interessant werden?
Es gibt bereits einige Schweizer KMU, an vorderster Front der Gigant Nestlé, die in Kuba präsent sind, trotz Einschüchterungsversuchen der USA. Aber obwohl Kuba ausländische Investoren und Firmen offiziell willkommen heisst, dümpelt die Zahl der Joint Ventures – normal ist bis heute eine staatliche Mehrheitsbeteiligung – bei rund 300 vor sich hin, in erster Linie im Tourismusbereich. Aber die Insel öffnet sich, es lockt ein Binnenmarkt mit rund 11 Millionen potenziellen Konsumenten, denen es an fast allem fehlt, leider aber auch an Kaufkraft. Zudem stehen sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung. Unter sachkundiger Anleitung von auch in der Schweiz existierenden Beratern ist es das unternehmerische Risiko durchaus wert, auf der letzten Insel des Sozialismus zu investieren.

* * * * * * * * * * * * * * *

MEHR SEHEN, ANDERS ERLEBEN – MIAMI, PANAMA & KUBA

Zusätzliches zweites Reisedatum mit René Zeyer: 24. November bis 11. Dezember 2015.
cotravel Fotoalbum zur Karibik.
Älterer Blogartikel zu Kuba von René Zeyer.
Kuba-Chronik von Vincenzo Capodici im Tages-Anzeiger.
Conan O’Brien (US-Talkmaster und Komödiant) sendet aus Kuba.